Es gibt immer wieder Momente in unserem Leben, wo wir der festen Überzeugung sind, dass andere es schlecht mit uns meinen. Dass was DIE tun ist falsch, und wir wissen, wie es richtig wäre. Das führt dann zu allerlei Gefühlsausbrüchen, Chaos oder sogar Streit. Wir können einfach nicht fassen, warum der andere nicht versteht, dass wir Recht haben. Oder wir halten an einer einmal gefassten Meinung fest. Oder glauben immer noch das, was wir uns als Kind mal zusammengereimt haben.
Aber ist das wirklich wahr? Wie sieht die Realität wirklich aus?
Beispiel 1:
Meine Mutter hatte ein besonderes Gebäck gemacht, dass meine Oma früher immer gemacht hat und hatte mir eines davon als „Versucherle“ gebracht. Da ich zu dem Zeitpunkt keinen Hunger hatte, stellte ich das Schälchen in die Küche und wollte es später essen. Doch dazu kam es nie. Als mein Mann nach Hause kam aß er es, ohne mich zu fragen und ohne, dass ich es mitbekam. Und ich war sauer! Richtig sauer! Ich konnte nicht verstehen, dass er, wenn da etwas besonderes rumsteht, nicht vorher fragt, sondern es einfach isst. Ähnliche Szenarien wiederholten sich öfters und ich hatte wirklich Probleme, warum er nicht einfach fragen kann bevor er Sachen einfach isst.
Doch dann hatte ich ein Gespräch mit einer Freundin. Diese war über meine Sichtweise ganz verwundert und klärte mich auf: „Bei uns zu Hause ist immer alles für jeden. Außer es wird explizit gesagt. Dann halten sich aber auch alle dran.“ Da ging mir ein Licht auf! Wir waren einfach in völlig unterschiedlichen Welten aufgewachsen, was den Umgang mit Essen angeht. Bei mir daheim wurde immer gefragt (außer bei den Standardlebensmittel, wenn davon noch reichlich vorhanden war). Deswegen war das für mich normal. Für meinen Mann ist es aber normal, dass man essen darf, was da ist – außer es wurde darauf hingewiesen, dass es für besondere Verwendung ist.
Das heißt jetzt nicht, dass unser Problem auf magische Weise gelöst ist. Aber wir haben jetzt beide ein Verständnis für die jeweilige Verhaltensweise des anderen. Natürlich werde ich nicht immer daran denken, meinem Mann Bescheid zu geben, wenn etwas nicht für ihn ist. Das werde ich auch mal vergessen, weil ich das nicht gewohnt bin. Und er wird auch bestimmt vergessen zu fragen, weil er das nicht gewohnt ist. Aber keiner von uns beiden hat Recht oder Unrecht. Oder ist ein schlechter Mensch und möchte dem anderen was Böses. Wir haben einfach unterschiedliche Herangehensweisen.
Beispiel 2:
Unsere Eltern sind keine Heiligen, sondern Menschen wie jeder andere auch. Das heißt, dass sie bei unserer Erziehung nicht alles perfekt gemacht haben. Je nach Jahrzehnt wann wir aufgewachsen sind, waren auch diverse kontraproduktive Methoden populär. Mit der besten Absicht uns damit zu guten Menschen zu erziehen, wurden diese angewandt. Bekanntes Beispiel, das leider immer noch Anwendung findet, ist „geh in dein Zimmer bis du wieder brav bist“. Erlebt ein Kind das oft genug, kann es anfangen zu glauben, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Oder dass es nur geliebt wird, wenn es sich auf eine bestimmte Art und Weise verhält. Im Erwachsenenleben können solche gemeinhin Glaubenssätze genannten Gedanken hinderlich sein. Aber – ist es wahr, dass wir nicht geliebt wurden?
Wer inzwischen selbst Kinder hat, dem fällt es vermutlich leichter das ganze von der anderen Seite zu betrachten. Als Eltern wollen wir, dass unsere Kinder es später besser haben. Das ist völlig unabhängig davon wie gut oder schlecht es uns ging – wir wollen immer, dass die Kinder es besser haben. Dazu gehört aus Erwachsenensicht auch, dass das Kind sich zu benehmen weiß. Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass die meisten Menschen ein Problem mit wütenden Menschen haben. (Was natürlich nur daran liegt, weil sie nie gelernt haben, damit umzugehen. Wut an sich ist kein schlechtes Gefühl.) Wenn also das Kind wütend wird und sich „daneben“ benimmt, versuchen die Eltern fast panisch, das zu beenden. Was nicht funktioniert, weil Gefühle ausgedrückt werden wollen. (Wie sie sinnvoll ausgedrückt werden ist nochmal ein anderes Thema). Also wird das Kind immer wütender, weil es nicht einfach wütend sein darf. Ein Teufelskreis. Irgendwann fühlen sich die Eltern hilflos und greifen zu dem Mittel, was doch offensichtlich immer hilft: „Geh auf dein Zimmer!“ (Dass das „hilft“ liegt einfach daran, dass Gefühle irgendwann wieder weg sind. Das lag aber nicht an dem alleine im Zimmer sein.) Das Wegschicken geschieht also aus Liebe! Weil sie davon überzeugt sind, dem Kind damit etwas wertvolles beizubringen. Genau das Gegenteil wovon wir überzeugt sind „ich wurde nicht geliebt“ war die Motivation für das Verhalten. Spannend!
Wir sind sehr schnell mit unseren Urteilen, weil wir die Dinge aus unserer Perspektive und mit unseren Erfahrungen im Hintergrund betrachten. Doch aus einer anderen Perspektive kann ein Verhalten durchaus sinnvoll sein und einen liebevollen Hintergrund haben.